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AI Picking: Griff-in-die-Kiste erkennt und löst verhakte Bauteile

Bei der automatica wurde mir Marius Moosmann von Dr. Werner Kraus und Dr. Karin Röhricht vorgestellt. Alle drei sind Mitarbeiter des Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA. Marius Moosmann ist dort Fachthemenleiter „Maschinelles Lernen“. Er stellte eine Applikation vor, die ich so zuvor noch nicht sah, weshalb ich ihn um einen Beitrag bat. Dieser Bitte kam er freundlicher- und dankenswerterweise nach.

Reinforcement Learning

Künstliche Intelligenz (KI) soll künftig das schaffen, was beim Griff-in-die-Kiste noch nicht rund läuft: Zu oft wird die Kiste nicht ganz leer. Mithilfe des „Reinforcement Learning“, dem Lernen aus „Versuch und Irrtum“, arbeiten wir am Fraunhofer IPA an einer optimierten und autonomeren Anwendung. Meine persönliche Erfolgsgeschichte ist das autonome Erkennen und Lösen von verhakten Bauteilen. Dass der Roboter beim Training in der Simulation dabei sogar einmal das möglichst weite Wegwerfen gegriffener Bauteile lernte, hat selbst mein Team und mich überrascht.

Der Griff-in-die-Kiste gilt als eine der Königsdisziplinen der Robotik: Ein Roboter greift ungeordnet vorliegende Bauteile aus einer Kiste und legt sie definiert für den nächsten Produktionsschritt ab. Dieses Schüttgut kommt in Produktionen häufig vor und ihm Herr zu werden, ist für den Menschen nicht eben angenehm: Es ist ganz im Gegenteil eine monotone und anstrengende und für das Unternehmen auch kostspielige Aufgabe. Eine typische „4D-Aufgabe“ also: dull, dirty, dangerous, dear. Diese Belastung für das Personal und eine Amortisation von typischerweise weniger als zwei Jahren im Dreischichtbetrieb motiviert sowohl die Beschäftigten als auch das Management, einen roboterbasierten Griff-in-die-Kiste einzusetzen.

Griff-in-die-Kiste schöpft Potenzial noch nicht aus

Und doch ist die Anwendung nicht umfassend in der Praxis angekommen. Mehr noch: Sie liegt sogar weit hinter den Erwartungen zurück. Jährlich werden weltweit über 200.000 neue Roboter für die Handhabung installiert. Von diesen führt nur ein Anteil im Promillebereich den Griff-in-die-Kiste aus. Das Gros der Roboter dagegen greift blind oder nutzt maximal eine 2D-Bildverarbeitung für eine semichaotische Anlieferung wie beispielsweise beim Depalettieren.

Gleichzeitig finden sich in Produktionen unzählige Vereinzelungsschritte, die per se für den Griff-in-die-Kiste geeignet wären, ganz zu schweigen von Anwendungspotenzialen in der Logistik. Das seit Jahrzehnten bestehende Anwenderproblem der eingangs genannten „4D-Aufgaben“ ist trotz guter Wirtschaftlichkeit also auch heute noch sehr groß und nicht gelöst.

Zwei Herausforderungen schränken Erfolg ein

Ein Grund hierfür: Zellen mit dem Griff-in-die-Kiste sind das erste Glied einer verketteten Produktions- oder Montagelinie. Die Austaktung solch einer verketteten Linie basiert darauf, dass jede Station eine garantierte Leistung erbringt. Der „typische“ Griff-in-die-Kiste bringt hier Unsicherheiten mit. So ist erstens nicht garantiert, dass ein Roboter alle Teile aus der Kiste entnehmen kann, weil er sie nicht (ausreichend gut) erkennt. Die letzten verbleibenden Teile müssen dann händisch vereinzelt werden. Zweitens steigt mit zunehmender Kistenentleerung auch die Taktzeit deutlich. Diese Schwankungen in der Taktzeit können entweder über Worst-Case-Auslegung oder Puffer ausgeglichen werden. Die ganze Linie passt sich also einer möglicherweise hohen Taktzeit an oder der Griff-in-die-Kiste startet früher und erarbeitet sich einen „Vorsprung“, um Stillstände zu verhindern.

Die leere Kiste als Vision

Diese Unsicherheiten verhindern aktuell den breiten Einsatz des Griff-in-die-Kiste in der Praxis. Am Fraunhofer IPA arbeiten wir in unserem Team an Lösungsansätzen, die die genannten Unsicherheiten adressieren. Unsere Vision dabei: eine vollständig leere Kiste, ganz ohne menschliches Zutun. Diese „Vision Zero“ ist aktuell noch Zukunftsmusik. Das kann verschiedene Gründe haben: Es kann an der Bildverarbeitung liegen, an ungeeigneten Sensoren oder Greifern, verbunden mit schwierig zu greifenden Objekten oder sonstigen kundenspezifischen Herausforderungen. Mit dieser Vision einher geht auch die Bestrebung, Einrichtaufwände so weit wie möglich zu automatisieren. Wir sprechen hier von einer „Automatisierung der Automatisierung“, die wir langfristig erreichen möchten. Das Beste wäre, wenn ein Unternehmen dem Robotersystem eine Kiste voller Bauteile hinstellt, sich dieses automatisch parametrieren kann und so nach ein bis zwei Tagen bereit ist, die Bauteile zu greifen – ganz ohne manuelle Einrichtung und mit einer deutlich gesteigerten Robustheit gegenüber bisherigen Anwendungen.

Doch davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. In Summe haben wir acht typische Endanwenderprobleme identifiziert, die den Einsatz des Griff-in-die-Kiste limitieren. Hierfür entwickeln wir Lösungsansätze und greifen zum Teil auf neue Technologien wie das Maschinelle Lernen zurück. Denn der Markt bietet zwar bereits viele Griff-in-die-Kiste Lösungen für das hier thematisierte modellbasierte Greifen. Die genannten Probleme müssen jedoch meiner Erfahrung nach noch besser adressiert werden.

Einem dieser acht Probleme widme ich deshalb viele Umfänge meiner Forschungs- und Projektarbeit, nämlich dem Erkennen und Lösen von verhakten Bauteilen. Bisher gibt es hierfür keine optimale Lösung. Manches Robotersystem versucht noch, durch Schüttelbewegungen die Verhakung zu lösen, aber das ist nicht immer erfolgreich und kann das Material beschädigen. Deshalb verfolge ich den Ansatz, dass das Robotersystem eine Verhakung schon bei der Objektlageschätzung erkennt. Mit diesem Wissen kann es die Greif- und Bahnplanung so umsetzen, dass die Verhakung durch die Bewegung des Robotersystems elegant gelöst wird.

(Englisch-sprachiges Video befindet sich weiter unten)

Reinforcement Learning perfektioniert die Anwendung in Simulationen

KI-Technologien haben hier einen echten Innovationssprung gebracht und meine Lösung überhaupt erst ermöglicht. Kurz zur Einordnung: KI ist ein sehr breites Feld unterschiedlichster Methoden und Verfahren zur Lösung von Problemen, für die bisher menschliche Intelligenz erforderlich war. Maschinelles Lernen (ML) ist eines dieser Verfahren und aktuell das am meisten verbreitete. ML wiederum gliedert sich in drei unterschiedliche Teilgebiete: Das überwachte, das unüberwachte und das bestärkende Lernen. Ich nutze letzteres. Es lässt sich am besten damit vergleichen, wie ein Kind lernt, nämlich durch „Versuch und Irrtum“. Auf den Roboter übertragen heißt das: Für eine richtig erkannte und gelöste Verhakung erhält er Pluspunkte, im negativen Fall Minuspunkte. Er ist bestrebt, eine maximale Punktzahl zu erreichen und passt sein Verhalten entsprechend an bzw. „lernt“.

Ein wichtiger Unterschied allerdings: Ein Kind hat bereits nach wenigen Versuchen verstanden, dass es etwas richtig oder falsch gemacht hat. Bis ein künstliches System dieses Wissen hat, braucht es hunderte, gar tausende Versuche. Das bedeutet: Ein Robotersystem muss tausende Griffe ausprobieren und aus diesen Erfolgen oder Misserfolgen lernen. Auf einem realen Roboter ist das natürlich nicht zu leisten. Die Anlage wäre viel zu lang nicht produktiv und vermutlich auch verschlissen, bevor es überhaupt richtig losgehen kann. Deshalb trainieren wir das Robotersystem in einer physikalischen Simulation. Hier ist es relativ unerheblich, wie viele Versuche benötigt werden, bis das System bereit für den realen Einsatz ist. Mithilfe des sogenannten „Sim-to-Real“-Transfers wird das Erlernte dann auf das reale Robotersystem übertragen. Und der Griff-in-die-Kiste kann loslegen.

Enthakungen lösen

Konkret heißt das dann: Das Robotersystem macht eine 3D-Bildaufnahme der Kiste. Damit kann es etwa drei bis acht Bauteile anhand von Tiefeninformationen lokalisieren. Mithilfe eines „Binary-Classifier-Netzwerks“ wird geprüft, ob Verhakungen vorliegen. Dann wird heuristisch die Greifplanung umgesetzt, das heißt, das Robotersystem kommt schnellstmöglich in wenigen Millisekunden zu einer passablen Lösung. Hier fließen Prognosen der Verhakungserkennung ein, priorisiert werden aber zunächst die freien Bauteile. Ist kein freies Bauteil mehr vorhanden, kommt die Enthakung zum Einsatz. Um diese auszuführen, werden maximal drei zusätzliche Pfadpunkte zum Griff ohne Verhakung hinzugefügt. Grundlage hierfür ist eine virtuelle Hemisphäre mit insgesamt 17 möglichen Pfadpunkten. In Testszenarien mit Pleuelstangen konnten wir mit unserer Entwicklung bei Verhakungen eine Reduzierung der effektiven Taktzeit von zehn Prozent erreichen.

Meine vorgestellte Lösung funktioniert tatsächlich schon robust und zuverlässig und ist die einzige, die aktuell in der angewandten Forschung verfügbar ist. Sie kommt allerdings auch dort an ihre Grenzen, wo es physikalisch keine Lösung gibt: wenn eine Enthakungsbewegung also beispielsweise die Kollision mit dem Kistenrand zur Folge hätte.

Am Fraunhofer IPA bieten wir bereits seit vielen Jahren unsere Bin-Picking-Software bp3 im Lizenzmodell an. Sie ist bereits bei über zehn Unternehmen erfolgreich im Dreischichtbetrieb im Einsatz. Forschungsseitig erweitern wir sie kontinuierlich um neue Fähigkeiten. Eine kommende wird das verbesserte Erkennen von sehr flachen oder spiegelnden Bauteilen sein. Und auch meine Entwicklung der Enthakungserkennung und -lösung erweitert unser Angebot ab sofort.

Roboter lernte das Weitwerfen

Jetzt muss ich aber noch auflösen, was es mit dem Roboter aus der Einleitung auf sich hat, der uns plötzlich mit seinem Talent für Weitwurf überraschte. Tatsächlich ist es so, dass das sogenannte „Rewardshaping“ bei unserem Training in Simulationen eine wichtige Rolle spielt. Wofür genau erhält der Roboter also seine Belohnung? Anfangs hatten wir die Anwendung so programmiert, dass der Roboter seine Belohnung erhält, wenn er die Objekte maximal weit voneinander getrennt hat – unsere Definition einer erfolgreichen Enthakung. Der Roboter aber dachte sich: Schleudere ich eines der voneinander gelösten Objekte weg, sind sie ja noch weiter voneinander entfernt und ich habe einen optimalen Job gemacht. Recht hatte er. Wir haben also unsere Belohnungsstrategie angepasst und jetzt klappt die Anwendung auch mit dem korrekten Ablegen.

Ich würde mich sehr darüber freuen, Ihnen unseren aktuellen technischen Stand persönlich vorführen zu dürfen und Ihnen dieses optimierte Bin Picking näherzubringen.

Weitere Informationen rund um den Griff-in-die-Kiste:

German: www.ipa.fraunhofer.de/binpicking

English: https://www.ipa.fraunhofer.de/en/expertise/robot-and-assistive-systems/intralogistics-and-material-flow/separation-processes-using-robots-bin-picking.html

Autorinformationen:

Marius Moosmann ist Fachthemenleiter „Maschinelles Lernen“ am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA; marius.moosmann@ipa.fraunhofer.de; +49 711 9703813

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Der Autor dieses Blogs ist maßgeblich am KI-/ Robotik-Projekt Opdra beteiligt. Er berät rund um Robotik. Mehr zu seiner Person finden Sie hier.

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